Experteninterview „Den Schulbau vom Kopf auf die Füße stellen!“ – Interview mit Dr. Otto Seydel

Welche aktuellen Trends und Fragen beschäftigen Sie in der Schulentwicklung? 

Es herrscht ein weitgehender Konsens, welche Anforderungen des Ganztags auch räumlich unterstützt werden müssen und die durch die klassischen Unterrichtsräume nicht oder nur unzureichend abgedeckt werden können: Ruhe, Rückzug, Bewegung und Spiel, kreative Aktivitäten wie Malen, Basteln und Bauen. Interessant daran ist allerdings, wie man zu einer guten Abstimmung zwischen Unterrichts- und Betreuungsangeboten kommt. Wie kann eine harmonische Melodie zwischen Unterricht und kreativen oder sportlichen Angeboten entstehen? Dazu braucht es eine integrierte Planung. Integrierte Planung bedeutet, dass sich die Mitarbeitenden aus den schulischen und den Betreuungsangeboten gemeinsam an der Planung beteiligen. So können hohe Synergien in der Nutzung entstehen. 
Häufig sind solche Prozesse von widerstrebenden Interessen geprägt. Ein Architekturbüro in Stuttgart hat dafür eine Formel entwickelt, mit der man diesen Streit lösen kann: Sie nennen es das „Gastgeberprinzip“. Nach diesem Prinzip sind die Räume aufgeteilt: In manchen Räumen ist der Unterricht Gastgeber und die Betreuungsangebote sind dort zu Gast und in anderen Räumen ist es umgekehrt. So kann es zu einer sinnvollen gemeinsamen Nutzung der Räume kommen: So können die Unterrichtsräume nachmittags zur Hausaufgabenbetreuung genutzt werden und die Kreativräume auch für den Unterricht am Vormittag eingesetzt werden. 
Kantinen und Mensen sind leider beim Blick auf die Räume in Schule ein ewiges Kummerthema. Denn beim Mittagessen herrscht in vielen Schulen ein unerträglicher Lärm. So entsteht ein Stressfaktor für die Betreuung im Ganztag an einer der sensibelsten Stellen: dem Essen. Das Mittagessen ist – gerade in offenen Formen der Ganztagsschule – oft eine Gelenkstelle zwischen Unterricht und Betreuung. Wenn aber die Räumlichkeiten ein Essen in Ruhe nicht ermöglichen, wird aus der Gelenkstelle häufig eine Sollbruchstelle. 

Wenn über Ganztag gesprochen wird, ist häufig die Rede von „Rhythmisierung“. Was bedeutet rhythmisiertes Lernen und welche Räume braucht es für rhythmisiertes Lernen über den ganzen Tag? 

Die Grundidee beim rhythmisierten Lernen ist, dass es in altersgerechter Form Abwechslung zwischen Phasen der Konzentration und der Entspannung, zwischen Ruhe und Bewegung, zwischen Lernen und Spielen braucht. Die Vorstellung, dass Konzentration und Lernen am Vormittag stattfinden, während der Nachmittag für Entspannung und Bewegung reserviert ist, ist angesichts des Alters der Kinder in der Realität einer Grundschule nicht haltbar. Ideal ist es, wenn es einen angemessenen Wechsel zwischen den verschiedenen Phasen gibt: Ähnlich wie beim Ein- und Ausatmen. Das beginnt schon in der einzelnen Unterrichtsstunde, in der sich solche Phasen abwechseln sollten. Natürlich müssen Schwerpunkte gesetzt werden. So kann das kognitive Lernen vermehrt am Vormittag stattfinden, während Kreativ- und Sportangebote stärker am Nachmittag verortet werden. Das ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass bislang viele Grundschulen sogenannte „offene“ oder „teiloffene“ Ganztagsschulen sind. Das bedeutet, dass nur ein Teil der Klasse das Nachmittagsprogramm wahrnimmt. Sofern nicht ein eigener Ganztagszug gebildet werden kann, ist ein Gleichtakt der gesamten Klasse also nicht herstellbar. Aber der grundlegende Wechsel, die sogenannte Rhythmisierung, sollte im Prinzip über den ganzen Tag verteilt werden können. Denn ein „ganzer“ Ganztag beginnt nicht erst um Viertel nach eins.
Zu Ihrer Frage, welche besonderen Räume eine Ganztagsschule braucht: Fast alle räumlichen Voraussetzungen, die für eine gute nachmittägliche Betreuung geschaffen werden, sind auch für den Unterricht von großem Nutzen. Das ist insofern sehr bemerkenswert, denn es handelt sich in gewisser Weise um „Fachräume“, die in den meisten Bundesländern im den Schulbauförderprogrammen für den Unterricht gar nicht vorgesehen sind – aber auch für einen guten Unterricht hoch nützlich sind! Ruhe-, Bewegungs- und Kreativräume können so vom Unterricht genauso genutzt werden können. Das bedeutet für jede Schule eine große Chance, den natürlichen Bedürfnissen von Kindern über den ganzen Tag hinweg gerecht zu werden. 

Welche Empfehlungen sprechen Sie hinsichtlich der Ganztagsbetreuung von Grundschulkindern beim Schulbau aus? 

Mit Blick auf die Ganztagsfrage möchte ich eine etwas zugespitzte Formulierung benutzen: Es gilt, den Schulbau vom Kopf auf die Füße zu stellen. Dahinter verbirgt sich eine Beobachtung: Kinder verbringen immer mehr ihrer Wachzeit in der Schule. Wenn wir bei unseren Schulbauberatungen auch die Kinder befragt haben, „Was ist für dich das Wichtigste in der Schule?“ dann beziehen sich ihre Antworten oft auf das Treffen mit Freundinnen und Freunden. Wenn man Schülerinnen und Schüler von Ganztagsschulen fragt, was für sie der wichtigste Ort ist, an dem sie am liebsten Zeit verbringen, antworten die meisten: der Pausenhof. Dies ist selbst dann der Fall, wenn der Hof nur ein Teerplatz ist. Auf die Frage, wo sie sich am wenigsten und nur ungerne aufhalten, ist die häufigste Antwort in allen Umfragen, die wir durchgeführt haben: die Toiletten. 
Daraus folgt: Die sogenannten „Nebenflächen“ sind mindestens so wichtig, wie die „Hauptflächen“ (für den Unterricht). Als Nebenflächen werden in der Architektur unter anderem die Orte beschrieben, die sich an der Schwelle zu den Hauptorten befinden: der Eingangsbereich, die Flure, die Toiletten und nicht zu vergessen der Außenbereich. Gute Schulgebäude kann man daran erkennen, dass in der Gestaltung dieser Nebenflächen die gleiche Wertigkeit steckt wie in den Hauptorten. Denn diese Orte haben wichtige Auswirkungen auf das Erleben von Schule und die Haltung zur Schule. 

Welche Anforderungen an ein Schulgebäude haben Sie? 

Die Bereiche für Ruhe und Bewegung, Kreativität und Spiel wie auch die gerade genannten Nebenflächen sind für den Unterricht genauso wichtig wie für die Nachmittagsangebote. Es gibt allerdings mehrere Anforderungen, die spezifisch für eine offene Ganztagsschule sind.

  • Erstens: Es braucht einen eindeutigen Ort, den die Kinder im Laufe des Tages immer wieder ansteuern können. An diesem Ort finden sie die zentrale Ansprechperson, eine Tafel, auf der steht, welche Angebote im Laufe des Tages stattfinden, und sie können ihr Namensschilder aufhängen, damit die verantwortlichen Erwachsenen wissen, wo sie sich gerade aufhalten. Als ein solcher zentraler Treffpunkt Orte bietet sich zum Beispiel eine Nische im Foyer an oder der Eingang in den Kreativbereich. 
  • Zweitens. Diese Frage scheint banal, ist aber schwieriger zu beantworten als die erste: Wo kommen am Nachmittag die Schulranzen, Mäntel und Gummistiefel hin? Eine zentrale – meist sehr enge – Spindanlage ist vor allem in Grundschulen ungeeignet: laut und stressig, ein Ort für Streit und Mobbing. Für den Unterricht gibt es häufig klassenbezogene Lösungen. Doch wohin mit den Ranzen am Nachmittag, wenn die Klassenräume zu sind? An vielen Schulen, die wir beraten, finden wir am Nachmittag auf den Fluren oder im Hof riesige Berge aus Schulranzen. Momentan gibt es dazu wenige Lösungen, denn eine zweite Garderobe außerhalb des Unterrichtsbereichs ist finanziell nicht zu vertreten. Einfacher haben es hier Schulen mit einer Clusterlösung. Clusterschulen sind solche, die eine gemeinsame Mitte haben, um die herum sich Klassenräume und Räume für Bewegung und Kreativität organisieren. Diese gemeinsame Mitte ist dann nicht nur Bewegungsbereich oder Verkehrsweg, sondern eine pädagogische Funktionsfläche, die oft auch im Rahmen des Ganztagsgenutzt wird. Da kann dann auch die Garderobe angesiedelt werden.
  • Drittens In einer Ganztagsschule müsste der Außenbereich in meinen Augen eigentlich der wichtigste „Raum“ sein. Doch das wird heute gerade in Großstädten ein Riesenproblem. Die Idealformel, dass jedes Kind fünf Quadratmeter Außenfläche an der Schule zur Verfügung hat, und zwar nicht nur geteerte Flächen sondern ein differenziertes Angebot, - das ist in vielen Schulen nicht mehr als ein frommer Wunsch. Es gibt zwar durchaus Schulen mit traumhaften Bedingungen. Aber an vielen Schulen kann man von einem Matschbereich oder einer großen Wiese nur träumen. Da müssen Schulen dann mehr vielleicht auch die Umgebung einbeziehen und beispielsweise den Park mitnutzen.

Welche Potenziale sehen Sie in dem Ausbau der Ganztagsbetreuung von Grundschulkindern durch den Rechtsanspruch hinsichtlich der räumlichen Gestaltung von Schulen? 

Der Rechtsanspruch birgt viele Potenziale, die wir mit den Händen greifen sollten! Dabei können mit einer integrierten Planung die Räume von beiden Bereichen – dem Unterricht und den weiteren Ganztagsangeboten – gemeinsam und sinnvoll genutzt werden. Das ist eine WinWin-Situation. Denn auch die Ganztagsangebote können durch eine gemeinsame Planung der Räume gewinnen. Dafür ist es wichtig, nicht den Fehler zu wiederholen, dass Ganztagsräume wie früher ein „Hort“ einfach nur neben die Schule gesetzt werden! Es braucht gemeinsame Flächen und Ideen für eine gelingende Ganztagsbetreuung, die das Kind in den Mittelpunkt setzt. 

Vielen Dank für das interessante Interview!