Interview zum Rechtsanspruch auf Ganztag Guter Ganztag: „Es braucht beide Perspektiven“ - Bettina Bundszus im Interview

Ministerialdirektorin Bettina Bundszus © Janin Schmitz / photothek.de

Bettina Bundszus leitete von 2014 bis 2023 die Abteilung "Kinder und Jugend" im Bundesfamilienministerium. Seit 2023 hat Jana Borkamp die Abteilungsleitung übernommen. 

Online-Redaktion: Kürzlich fand der Ganztagskongress des BMBF und des BMFSFJ in Berlin statt. Welches kurze Resümee ziehen Sie?

Bettina Bundszus: Ein sehr positives Resümee! Es ist unglaublich viel Bewegung in der Ganztagsdebatte und es gab einen lebhaf

ten Austausch auf dem Kongress. Ich denke, die Kongresse müssen wir weiterführen.

Online-Redaktion: BMBF und BMFSFJ haben gemeinsam zum Kongress eingeladen und werden auch bei der Umsetzung des Ganztagsförderungsgesetzes (GaFöG) in der gemeinsamen Geschäftsstelle zusammenarbeiten. Wie wichtig ist die Kooperation?

Bundszus: Die Kooperation ist von fundamentaler Bedeutung. Sie hat sowohl eine politische Dimension, denn es sind zwei Ressorts unterschiedlicher politischer Farben, die zusammenwirken. Und es gibt eine fachliche Dimension: Einen guten Ganztag kann es nur geben, wenn sowohl die Kultusseite als auch die Seite der Kinder- und Jugendhilfe eng zusammenarbeiten. Es braucht beide Perspektiven und ich freue mich, dass die Kooperation so gut funktioniert.#

Online-Redaktion: Wir fragen Sie natürlich auch deshalb, weil Sie beide Seiten gut kennen, denn Sie haben den Ganztagsausbau seit 2003 im Bundesbildungsministerium begleitet. Was war Anlass, die Ganztagsangebote für Kinder im Grundschulalter in den Fokus zu rücken?

Bundszus: Hier gibt es zwei entscheidende Gründe: Da ist zum einen die Chancengerechtigkeit für Kinder, die an Ganztagsschulen besser zu verwirklichen ist. Und zum anderen gibt es den Betreuungsbedarf der Eltern mit Kindern im Grundschulalter, der stetig ansteigt. Beide Gründe sind miteinander verbunden, denn es ist immer noch so, dass Kinder aus Elternhäusern, in denen mehr sozioökonomische Ressourcen vorhanden sind, also höhere Bildungsabschlüsse und höhere Einkommen, deutlich bessere Chancen in ihren Bildungsbiografien haben.

Online-Redaktion: Warum braucht es aus Ihrer Sicht den Rechtsanspruch?

Bundszus: Der Rechtsanspruch ist der entscheidende Hebel, die Bedarfe der Kinder und der Eltern in der Realität durchzusetzen. Der Rechtsanspruch ist der Schritt von der Sonntagsrede in den Alltag. Das haben wir im Kitasystem erlebt: Erst mit dem Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung haben die Länder und Kommunen dem Ausbau der Kitas tatsächlich die nötige Priorität eingeräumt und einräumen können. Und da eine wesentliche Lücke in Richtung der Betreuung nach der Kitazeit klaffte, musste hier ebenfalls der Rechtsanspruch eingeführt werden.

Online-Redaktion: Im Zentrum des Kongresses stand die Qualität der Ganztagsangebote. Was heißt für Sie Qualität?

Bundszus: Qualität hat viele Aspekte und sie ist mehrdimensional. So gibt es den kinderrechtlichen Ansatz, das heißt, ein Kind, das viele Stunden am Tag in einer Einrichtung ist, muss sich dort wohlfühlen. Die Forschung spricht heute von einer Institutionalisierung der Kindheit und dem Recht auf Wohlbefinden des Kindes, wie es in Artikel 3 der UN-Kinderrechtskonvention heißt. Das bedeutet, die Institutionen müssen sich auf die Kinder und auf ihre Rechte einstellen. Dazu gehört, ein Recht auf Mitsprache, dazu gehört natürlich das Recht zu lernen und auch ein Recht auf Spiel.

Im Sozialgesetzbuch VIII sprechen wir vom Recht des Kindes auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Qualität bedeutet für mich auch, für Chancengleichheit zu sorgen und die Kinder individuell zu fördern. Qualität bedeutet aber ebenso, auf die körperliche und mentale Gesundheit zu achten. Qualität bedeutet schließlich eine ausreichende Personalausstattung. Kinder sind „Beziehungslerner“, und für gute Beziehungen braucht es Zeit.

Online-Redaktion: Neben schulischen Ganztagsangeboten sollen verstärkt Ganztagsangebote der Kinder- und Jugendhilfe einbezogen werden. Welche Rolle spielen sie als Bildungsorte?

Bundszus: Wir sprechen heute nicht mehr nur von den Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe, sondern vom gesamten Sozialraum, dessen Angebote einbezogen werden sollen. Das kann ein Kinderbauernhof genauso sein wie der Abenteuerspielplatz, die Feuerwehr oder die Kunstschule. Diese Angebote spielen eine große Rolle, denn es geht um eine ganzheitliche Bildung und Entwicklung der Kinder. Warum sollten in der Schule Strukturen gedoppelt werden, wenn sie schon bestehen? Das berühmte Sprichwort „It takes a village to raise a child“ hat an Weisheit nichts verloren.

Online-Redaktion: Vor welchen Herausforderungen steht die Kinder- und Jugendhilfe in Kooperationen mit Schulen?

Bundszus: Ich bin nun schon seit 20 Jahren in der Ganztagsdebatte. Manches hat sich toll entwickelt und es gibt, wie zum Beispiel auf Ihrer Plattform, jede Menge guter Beispiele. Etliche Hürden sind abgebaut, Kooperationsverträge können geschlossen, Versicherungsfragen geklärt werden. Für vieles gibt es Blaupausen, die den engagierten Kräften vor Ort ganz konkret helfen. Der Ganztag wird auch nicht mehr in Frage gestellt, wie es lange Jahre in der konservativen Familiengeschichte der Bundesrepublik der Fall war. Davon zeugt der neue Rechtsanspruch. Ich wünsche mir jetzt, dass die Kinder- und Jugendhilfe rechtlich gestärkt und in den Schulgesetzen deutlicher verankert wird, zum Beispiel mit einem Platz für Erzieherinnen und Erzieher in der engeren Schulleitung.

Online-Redaktion: Wenn Sie einen Blick in die Zukunft werfen: Welchen Gewinn sollen Kinder und Jugendliche von Ganztagsangeboten haben?

Bundszus: Gewinnen sollen sie, dass sie ihr Leben gut in die Hand nehmen können und dass sie mit Veränderungen umgehen können. Und da sind für die Zukunft in der digitalen Welt die Kompetenzen aus dem „4K-Modell“ entscheidend: Kommunikation, Kollaboration, Kreativität sowie Kritisches Denken. Und genau dafür bieten Ganztagsschulen, bietet die Kinder- und Jugendhilfe ein enormes Potenzial. Ich bin sehr gespannt, wie das in der Fachdebatte weiterentwickelt wird.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

Der Text wurde mit Zustimmung der Online-Redaktion von ganztagsschulen.org übernommen: Autor: Online-Redaktion. Guter Ganztag: „Es braucht beide Perspektiven“. 25.05.2023. In: https://www.ganztagsschulen.org/de/ganztagsschule-vor-ort/bildungspolitik-interviews/guter-ganztag-es-braucht-beide-perspektiven.html. Datum des Zugriffs: 26.05.2023