Herr Schega, was ist Ihr Konzept? Wie gestalten Sie Partizipation an der Nürtingen-Grundschule?
Auslöser der Auseinandersetzung mit Antidiskriminierung hatte an unserer Schule einen unangenehmen Ursprung: Eltern haben der Schule vorgeworfen, rassistisch zu sein. Das wollte zunächst niemand hören, doch im Kern hatten die Eltern Recht und wir mussten uns als Schule mit den Vorwürfen auseinandersetzen. Daher haben wir vor einigen Jahren ein dreijähriges Projekt mit dem – aus heutiger Sicht etwas veralteten – Namen „NürtiKulti“ durchgeführt. Die Schule wurde dabei von März 2011 bis Februar 2014 von der Stiftung SPI Ostkreuz begleitet und hinsichtlich aller möglichen Diskriminierungssituationen überprüft. Eine wichtige Frage damals war: Verfügt die Schule über ein demokratisches Grundgerüst und bleibt die Schule an der Weiterentwicklung dessen dran?
Als Ergebnis des Projektes haben wir die Schule auf den Ebenen der Partizipation und Demokratie ausgebaut. Bezogen auf die Beteiligung der Kinder selbst gibt es folgende Gremien:
- Die Kinderkonferenz gibt es in jeder Klasse. Sie wird von den Kindern geleitet und entscheidet über Angelegenheiten, die die einzelne Klasse betreffen.
- Im „Schüler:innenparlament“ wird ebenfalls ca. alle drei Wochen getagt und Themen aus dem ganzen Schulalltag diskutiert.
- In der (Arena Talentshow), einer Vollversammlung der Schüler:innen steht das Kreative im Vordergrund und es werden unterhaltsame Dinge gezeigt sowie inhaltliche Dinge abgestimmt.
Auf der Ebene der professionellen Mitarbeitenden gibt es neben der Gesamtkonferenz auch eine Dienstberatung. In diese werden alle Lehrkräfte regelmäßig eingeladen. Zu Anfang hatten wir eine externe Moderation, um ein Gleichgewicht zwischen der Leitung und den Lehrkräften zu schaffen. Mittlerweile sind wir so eingespielt, dass eine externe Moderation nicht mehr notwendig ist. In der Dienstberatung geht es darum, wichtige Informationen zu teilen und Lehrkräfte in relevante Entscheidungen einzubeziehen. Alle wichtigen Dinge, die an der Schule passieren oder den Schulalltag betreffen, werden hier besprochen. So kontrolliert dieses Gremium auch die Entscheidungen der Schulleitung. Für mich als Schulleiter ist das sehr erleichternd, denn das führt dazu, dass Entscheidungen gemeinsam getragen werden.
Ein ähnliches Gremium gibt es auch auf der Ebene des Hortes: Wir nennen es Groß-Team. Es erfüllt eine ähnliche Funktion wie die Dienstberatung für die Lehrkräfte. Außerdem gibt es einen vierzehn-tägigen Jour Fixe mit dem Vorstand der Gesamtelternvertretung, Vertreterinnen und Vertretern aus dem Hort, der Schulsozialarbeit und der Schulleitung und natürlich die GEV (Gesamtelternvertretung). So werden alle beteiligten Akteurinnen und Akteure an der Schule einbezogen.
Doch diese partizipativen Angebote sind nur die Grundlage, um Antidiskriminierung überhaupt leisten zu können. Damit ein System antidiskriminierend sein kann, muss es zunächst demokratisch sein. Daher nutzen wir zusätzlich das Instrument der Aushandlungsrunde. Diese besteht aus sechs Kindern und sechs Erwachsenen, die jeweils zur Hälfte Fachkräfte und zur anderen Hälfte Eltern sind. In dieser Runde werden schwierige Entscheidungen aufgegriffen, wenn es beispielsweise um die gerechte Nutzung des Fußballfeldes geht. Es ist wichtig, bei solchen Fragen alle Gruppen der Schule zu beteiligen. So wird das Commitment und Engagement größer und alle halten sich mehr an die Regeln, wenn sie selbst gemacht wurden.
Wo sind Sie gestartet und wie sind Sie auf die Idee gekommen?
Diese Frage beschäftigt mich schon mein ganzes Berufsleben. An der Nürtingen-Grundschule fing es mit Rassismus-Vorwürfen von Eltern an die Schule an. Im Kern war das richtig. Die Grundannahme, dass es „zu wenig bürgerliche“ und zu viele Kinder mit Migrationsgeschichte an unserer Schule gäbe, wertet Kinder mit Migrationsgeschichte ab. Man muss an einer Schule immer so denken: Alle, die da sind, sind richtig!
Welche Maßnahmen setzen Sie konkret für mehr Partizipation und Chancengerechtigkeit um?
Zum einen geht es um einen fairen und demokratischen Umgang miteinander: Wenn die Kinder aus marginalisierten und für problematisch gehaltenen Bevölkerungsgruppen fair behandelt werden und mitreden können, hat man häufig einen ganz höflichen Ton untereinander.
Zum anderen müssen alle Lehrkräfte an der Schule Diversity-Trainings machen. In diesen Trainings geht es um strukturellen Rassismus, um das Bearbeiten der eigenen Vorurteile und Materialien, wie man diese sichtbar machen und damit umgehen kann. Mit diesen Trainings können wir der hohen Handlungsunsicherheit vieler Lehrkräfte begegnen. Dabei ist es wichtig, darauf zu achten, dass die Trainerinnen und Trainer erfahren sind. Wenn so ein Training nicht gut gemacht und moderiert ist, entsteht ganz schnell Widerstand.
„Ich würde das Konzept gerne ganz tief in das Alltagsverhalten der Mitarbeitenden der Schule integrieren. Damit es da Wirkung entfalten kann.“
Wie gehen Sie an der Nürtingen-Grundschule mit antidiskriminierendem Verhalten um?
An unserer Schule haben wir ein geregeltes Vorgehen bei rassistischen Vorfällen. Diese müssen grundsätzlich mir als Schulleitung gemeldet werden. Doch um unser Konzept stetig weiterzuentwickeln, unterstützt uns die Antidiskriminierungsbeauftragte Olenka Bordo Benavides mit einer Beratung. Außerdem organisiert sie eine Empowerment-Gruppe mit Schwarzen Kindern, in der sie mit ihnen auch über Rassismuserfahrungen im Alltag spricht. Wenn hier Vorfälle aus der Schule thematisiert werden, trägt Olenka diese anonymisiert an mich heran.
Die Lehrkräfte und pädagogischen Fachkräfte werden durch Trainings für antidiskriminierendes Verhalten sensibilisiert. Falls Fälle von rassistischem Verhalten bei mir gemeldet werden, suche ich das Gespräch mit den entsprechenden Personen.
Wenn sich Kinder gegenüber anderen Kindern diskriminierend verhalten, bearbeiten wir das in einem Dreierschritt:
- Das Kind, das sich diskriminierend verhalten hat, wird auf sein Verhalten hingewiesen. Wir fragen: Woher kommt die Beleidigung? Warum war das Verhalten verletzend für das betroffene Kind?
- Wir fragen das Kind zudem, ob es an die Vorurteile glaubt. Zum Beispiel: Glaubst du, dass weiße Menschen mehr Würde haben? Das hat noch kein Kind bejaht.
- Der letzte Schritt ist die Wiedergutmachung. Wir treffen eine Verabredung mit dem Kind: Das Kind passt auf, dass sowas nicht nochmal passiert und es sich in einer möglichen ähnlichen Situation an die Seite des betroffenen Kindes stellt. Außerdem entschuldigt sich das Kind bei dem betroffenen Kind für sein Verhalten, manchmal auch mit einem kleinen Geschenk.
Tipps
Austausch mit anderen Schulen
Man kann immer voneinander lernen! An der Nürtingen-Grundschule tauschen wir uns mit anderen Grundschulen in der Umgebung aus. Wir stimmen unsere Konzepte ab und lernen voneinander, was besonders gut funktioniert oder was auch nicht gut klappt.
Anfangen und auf professionelle Angebote zurückgreifen
Am wichtigsten ist es, sich auf diesen Weg zu begeben. Am besten holen sich Schulen, die anfangen wollen, Profis zum Thema Antidiskriminierung als Unterstützung für den Prozess sowie Diversity-Trainings dazu und sie kooperieren mit Schulen, die hier schon aktiv sind. Insgesamt nimmt die Sensibilisierung für die Themen zu – doch es ist wichtig, dranzubleiben und das Konzept immer wieder auf Schwachstellen überprüfen zu lassen.